Die Felsenknacker

Im Felslabor Grimsel der Nagra haben sich Forscher der ETH Zürich tief in den Berg zurückgezogen. Um die Machbarkeit von petrothermalen Geothermie-Kraftwerken neu zu überprüfen, bringen sie kompaktes Gestein zum Bersten.

Es ist eisig kalt, Anfang Dezember, am Fuss der Staumauer des Räterichsbodensees am Grimsel. Wasserläufe sind auf den Felsplatten zu bizarren Eisströmen erstarrt. Ein letzter Blick aus dem Fenster, dann fährt der VW-Bus in einen Tunnel, der unterhalb der Staumauer in den Berg hineinführt.

Nach gut einem Kilometer hält der Kleinbus an einer Nische; Fahrräder lehnen an der Wand, rechts eine grünblaue Stahltür. «Willkommen im Felslabor der Nagra»: Ein Leuchtschild markiert den Eingang zur Zentrale dieser Forschungseinrichtung. Kalt ist es hier nicht mehr: Unter dem Juchlistock, überdeckt von 450 Metern solidem Granit, beträgt die Temperatur konstant 13 Grad. Die nächsten paar hundert Meter zum Labor geht der Ingenieurgeologe Florian Amann zu Fuss, tiefer hinein in den Tunnel, den die Kraftwerke Oberhasli AG für den Bau des Wasserkraftwerks anlegte.

Amann öffnet eine Metalltür und steigt eine steile Betontreppe hinab, die in einer Kaverne endet. Am Boden kauert ein Forscher und schaut gebannt auf den Bildschirm seines Laptops, der vor ihm auf einem Stuhl steht. Ein weiterer Wissenschaftler in leuchtend gelben Arbeitshosen kontrolliert ein Dutzend Druckanzeigen. Am Gestell an der Wand ist ein Wirrwarr von grünen Schläuchen festgezurrt. In der Kaverne gibt es kein Tageslicht, keine Geräusche sind zu hören ausser dem Gemurmel der Wissenschaftler.

Vergrösserte Ansicht: Projektleiter Florian Amann und Projektmitarbeiter Reza Jalali regulieren den Wasserdruck in den Bohrlöchern.
Projektleiter Florian Amann und Projektmitarbeiter Reza Jalali (rechts) regulieren den Wasserdruck in den Bohrlöchern.

Diese Grotte ist der Schauplatz eines bislang einzigartigen Versuchs, der den Weg für die Tiefengeothermie in der Schweiz bereiten soll: das «Insitu Stimulation and Circulation»-Experiment, kurz ISC-Experiment genannt.

Mit diesem Versuch wollen die Forschenden herausfinden, wie sie kompakten Fels aufbrechen und damit einen effizienten Wärmetauscher schaffen und erhalten können. Ein solcher ist zentral für die Strom­produktion mit geothermischen Kraftwerken.

Um das kompakte Gestein zu knacken, werden es die Forscher «stimulieren», das heisst, sie pressen unter hohem Druck Wasser in Bohrlöcher ein. Das bringt das Gestein zum Bersten, Wasser kann durch das erzeugte Risssystem zirkulieren und sich erwärmen. Die Forscher wollen herausfinden, ob dieses Risssystem über längere Zeit Bestand hat und ob die Wasserzirkulation ausreicht, um einen Wärmetauscher wirtschaftlich erfolgreich zu betreiben.

Das Experiment soll auch zeigen, welche Methode zum Aufbrechen des Gesteins besser geeignet ist. Denn Fels lässt sich auf zwei Arten aufbrechen – beide werden hier angewendet: Die Wissenschaftler erhöhen den Wasserdruck in einem Bohrloch so lange, bis kompaktes Gestein bricht. Das nennt sich «hydraulic fracturing». Bei der zweiten Variante, dem «hydraulic shearing», nutzen die Geoingenieure bestehende Risse im Gebirge und erhöhen den Wasserdruck dort gezielt. Dadurch entstehen Verschiebungen und die Risse vergrössern sich.

Politik macht Druck

Besonders interessiert die Wissenschaftler, wie Anzahl und Stärke der Erdbeben, die bei der Stimulation entstehen, minimiert werden können. Denn diese Problematik war ein wesentlicher Grund für das Scheitern der Tiefengeothermie-Projekte in Basel und St. Gallen. An beiden Orten spürte die Bevölkerung Erdbeben, die beim Aufbrechen des Grund­gesteins ausgelöst wurden. Beide Projekte wurden gestoppt – ein Rück­schlag für die Geothermie.

«Die bisherigen, weltweiten Erfahrungen mit petrothermalen Systemen zeigen, dass es auch ohne spürbare Erdbeben geht», sagt Florian Amann. «Dorthin wollen wir auch kommen.» Angetrieben werden die Forscher nicht zuletzt auch von der Politik. In seiner Energiestrategie 2050 setzt der Bundesrat das Ziel, mit geothermischen Kraftwerken sieben Prozent des Schweizer Strombedarfs – immerhin 4,4 Terawatt­stunden – zu erzeugen. Dies entspricht der anderthalbfachen Leistung des AKW Beznau I. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen in den kommenden 30 Jahren mindestens 25 geothermische Kraftwerke von je 20 Megawatt Leistung in Betrieb genommen werden.

Mit dem Abspielen des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.Mehr erfahren OK
Video «ETH-Wissenschaftler unter Tage»

Zwei Jahre Vorbereitung

Über zwei Jahre haben Amann und seine 15-köpfige Mannschaft den Versuch minuziös vorbereitet. Am Tag, an dem er den «roten Knopf» drückt, muss alles stimmen: «Wir haben nur einen Anlauf, um das Gestein zu knacken», betont der Ingenieurgeologe. Ist der Fels aufgebrochen, lässt er sich nicht wieder kitten. «Geht etwas schief, müssten wir einen neuen, unverbrauchten Gesteinskörper erschliessen. Das können wir uns weder zeitlich noch finanziell leisten.»

Zur Vorbereitung des Experiments haben die Forscher den Fels an der Probestelle detailliert analysiert, um jeden Zentimeter der Gesteinsmasse genau zu kennen. So können sie den Felszustand vor und nach der Wasserinjektion vergleichen.

15 Bohrlöcher von 18 bis 50 Metern Tiefe und bis zu 15 Zentimetern Durchmesser haben die Forscher gebohrt und diese mit hochsensiblen Messinstrumenten ausgerüstet. Drei der Bohrlöcher brauchen die Forscher für Dehnungs- und Temperaturmessungen, vier für seismische Messungen, vier für die Druck- und Dehnungsüberwachung. Jede Verschiebung, Druckänderung oder Verformung des Felsens wollen die Forscher haarklein erfassen. Hochempfindliche Mikroseismometer ausserhalb der Bohrlöcher sollen zudem jede Erschütterung, die vor, während und nach der Wasserstimulation auftritt, erfassen.

Florian Amann verlässt die Kaverne und betritt einen kreisrunden, von einer Tunnelbohrmaschine ausgefrästen Stollen. An den Wänden verlaufen Kabel, am Boden ein Rinnsal von Wasser, das aus dem Fels austritt. Nach 30 Metern bleibt er stehen, vor einem unscheinbaren Kästchen, das auf dem steinernen Stollenboden angebracht ist. Er bückt sich, kontrolliert rasch, ob es intakt ist. «Dieses Gerät ist ein Kippmeter», erklärt er. «Es misst die Neigung des Granitbodens, wenn dieser aufgrund von Veränderungen im Gestein deformiert wird.» Sogar die winzige Neigung des Bodens, wenn ein Mensch an der Messsonde vorbeigeht, können diese Geräte erfassen. «Sobald wir das Experiment starten, darf hier keiner mehr rumlaufen», macht der Projektleiter klar. «Dies würde die Messdaten verfälschen und wir müssten hinterher diese Störungen herausrechnen.»

Vergrösserte Ansicht: Stollen im Grimsel Felslabor der Nagra.
Stollen im Grimsel Felslabor der Nagra.

Echtzeit-Modellierung

Daten sind in diesem Experiment zentral, genauso wie deren Management. Allein die seismische Überwachung generiert Terabytes an Daten. Von der ETH Zürich aus haben die Forscher jederzeit Zugriff darauf, denn die Kaverne ist via Internet direkt verbunden.

«Während der Stimulation wird es sehr rechenintensiv», sagt Amann. Die Daten werden in Echtzeit übermittelt, damit eine Simulation sogleich die nächsten Minuten des Experiments vorausberechnen kann.

Die Analyse aller Daten werde zwei bis drei Jahre dauern. «Wir produzieren einen Datensatz für Generationen von Doktorierenden», schmunzelt der Projektleiter. Erst im Jahr 2020 wird ein Gesamtüberblick über das ISC-Experiment parat sein. Industriepartner brauchen auf bedeutende Erkenntnisse jedoch nicht so lange zu warten. «Die Industrie ist an unseren Ergebnissen sehr interessiert. Wertvolle Resultate werden wir ihr frühzeitig zur Verfügung stellen», sagt Amann.

Gleichwohl stehen die Forscher (und die Stromindustrie) erst am Anfang eines langen Wegs. Das ISC-Experiment ist «nur» ein Modellversuch und weist viel geringere Dimensionen auf als ein «richtiges» geothermisches Kraftwerk. Weshalb ist ein solcher Versuch dennoch sinnvoll? «Wir können die Verfahren, die wir für das Knacken des Gesteinskörpers verwenden, nicht in einer Tiefenbohrung von 5000 Metern testen», betont Amann. Dies wäre nicht wirtschaftlich. Auch wäre es teils unmöglich, eine tiefe geothermische Bohrung mit einem derart ausgeklügelten Messsystem zu bestücken. Deshalb müssen die Forscher ein solches System im kleinen Massstab nachstellen und mit einem Computermodell hochskalieren. «Dieser Aufwand ist unabdingbar, um die Risiken dieser Technologie zu minimieren oder gar auszuschliessen», erläutert der Forscher.

Von der Machbarkeit überzeugt

Die Zeit unter Tage fliesst dahin wie ein träger Strom. Die Neonröhren leuchten gleichförmig und geben keinen Hinweis auf den natürlichen Tagesgang. Gelegentlich dringt ein Motorengeräusch in die Kaverne hinab. Den Männern knurrt der Magen. Es ist Mittag geworden. Zeit, um in der Zentrale des Felslabors gemeinsam mit anderen Forschern etwas zu essen.

Amann steigt die Treppe hoch, gefolgt von seinen Mitarbeitern. Er öffnet die grünblaue Stahltür, tritt in den spärlich beleuchteten Haupttunnel und geht zu Fuss zur Zentrale zurück. Eigentlich hätten die Forscher schon Anfang Dezember den Felsen zum Bersten bringen wollen. Aber Liefer­schwierigkeiten bei gewissen Messinstrumenten machten ihnen einen Strich durch die Rechnung. Amann versteht dies dennoch nicht als schlechtes Omen. Er ist zuversichtlich, dass der Versuch wertvolle Daten generieren und die Tiefengeothermie vorwärtsbringen wird.

Unerschütterlich ist sein Glaube an diese Form der Elektrizitäts­er­zeu­gung: «Ich bin überzeugt, dass geothermische Kraftwerke künftig einen Teil unseres Strombedarfs decken werden, und wir schaffen hier die Grundlage, dass die Schweiz diese CO2-arme Energiequelle nutzen kann.»

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1/2017 des ETH-Magazins Globe erschienen.
Text und Bilder: Peter Rüegg

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert